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Projekt zur numerischen Werkstoffsimulation von Stählen in Pipelines abgeschlossen

Vincent Keim, Prof. Dr.-Ing. Aida Nonn
Wie lassen sich die exzellenten Materialeigenschaften von Rohrleitungsstählen, die für Pipelines zum Gastransport nötig sind, künftig besser ausschöpfen? Damit befasste sich ein Forschungsprojekt an der OTH Regensburg.

Pipelines zum Gastransport werden aus hochzähen Rohrleitungsstählen gefertigt, die einen sicheren Betrieb der Transportanlagen garantieren. Das Anwendungsspektrum moderner Pipelinestähle ist derzeit allerdings erheblich begrenzt, weil die Stähle Anforderungen aus Prüfnormen aufgrund ihres unüblichen Versagensverhaltens nicht erfüllen. In einem Forschungsprojekt an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg (OTH Regensburg) wurde zweieinhalb Jahre lang daran gearbeitet, die hervorragenden Materialeigenschaften solcher Stähle künftig besser ausschöpfen zu können.

Der Widerstand gegen längs laufende Risse unter Gewährleistung von Rissarrest – damit ist die Verzögerung und schließlich das Stoppen eines Risses gemeint – stellt eine der wichtigsten Sicherheitsanforderungen an Pipelines zum Gastransport dar. Die europäische Stahlindustrie hat daher Rohrleitungsstähle mit hervorragenden Zähigkeitseigenschaften entwickelt, die den hohen Sicherheitsanforderungen gerecht werden.

Ihr Potenzial kann bislang aber nicht vollumfänglich ausgeschöpft werden. Dies liegt daran, dass bei der Zähigkeitscharakterisierung in Kerbschlagbiegeversuchen (CVN) und Fallgewichtsversuchen nach Battelle (BDWT) Bruchphänomene auftreten, die herkömmliche Bemessungsverfahren infrage stellen. So ist das Auftreten von sogenannten „Separations“ und von „inversem Bruchverhalten“ zu beobachten. Beides kann den spröden Versagensmechanismen zugeordnet werden. Das spröde, instationäre (schwer vorhersagbare) Versagensverhalten ist in diesem Zusammenhang als besonders kritisch zu erachten, weil es dabei zum kilometerlangen Aufreißen der Pipeline kommen kann.

Unsicherheit beschränkt Anwendungsfelder

Aufgrund dieses ungewöhnlichen Verhaltens und der fehlenden Erfahrungswerte zur Deutung desselbigen herrscht bei den Bemessungsingenieurinnen und -ingenieuren große Unsicherheit. Dies führt in der Praxis zu einer starken Beschränkung der Anwendungsfelder von höchstzähen Stählen. Dadurch wiederum werden deren exzellente Materialeigenschaften, Material- und Herstellungskosten und ihr Potenzial für die Steigerung der Transportkapazität verschwendet.

Hier setzte das Projekt „Quantitative Beschreibung des Zähigkeitseinflusses auf die Rissarresteigenschaften moderner Pipelinestähle“ unter Leitung von Prof. Aida Nonn (Computational Mechanics and Materials Lab, Fakultät Maschinenbau) an. Im Kooperationsprojekt mit Prof. Sebastian Münstermann, der dem Institut für Eisenhüttenkunde der RWTH Aachen angehört, wurden auf Basis umfangreicher, experimenteller Arbeiten in der Tief- und Hochlage, also bei niedrigen und hohen Temperaturen, schädigungsmechanische Modellierungsansätze entwickelt und mit Parametern versehen. Die Verformungs- und Schädigungsmodelle wurden durch Finite-Elemente-Simulationen von CVN- und BDWT-Versuchen verifiziert und dann zur Vorhersage des Hochgeschwindigkeitsrisswachstums in Pipelines angewandt.

In den Simulationen des BDWT-Versuchs wurden erstmals Separations und das inverse Bruchverhalten wiedergegeben (siehe Abbildung). Auf Bauteilebene zeigten die Simulationen infolge der Separations einen Anstieg der Rissausbreitungsgeschwindigkeit im Rohr, jedoch im Hinblick auf die Spaltbruchauslösung weniger kritische Spannungsverhältnisse. Hinsichtlich des inversen Bruchverhaltens konnte geschlussfolgert werden, dass dieses in der Hochlage auf die Spannungsverhältnisse in den Laborproben zurückzuführen, im tatsächlich verlegten Rohr aber nicht zu erwarten ist.

Rohrmodell berechnet Wechselwirkungen

Parallel dazu wurde im Projekt ein gekoppeltes Fluid-Struktur-Interaktions-Rohrmodell entwickelt, das die Abschätzung der Wechselwirkungen zwischen der Rissausbreitung in der Rohrwand, der Fluid-Dekompression im Inneren des Rohrs und der Erdhinterfüllung in Onshore-Anwendungen ermöglicht. Das Modell dient der dreidimensionalen Berechnung der Druckfelder im Inneren der Pipeline während des Berstens. Die Verifikation des FSI-Rohrmodells erfolgte durch Simulationen von Berstversuchen.

Die in dem Projekt erzielten Ergebnisse helfen dabei, der herrschenden Unsicherheit im Umgang mit höchstzähen Rohrleitungswerkstoffen entgegenzuwirken und deren Einsatzspektrum zu erweitern. Basierend auf den Vorhersagen, können bisweilen angewandte Korrelationen zwischen dem Materialverhalten aus Laborversuchen und dem auf Bauteilebene in der Pipeline neu bewertet werden. Ferner stellen die entwickelten Modellkonzepte innovative Tools zur Bemessung und Auslegung anderer druckführender Komponenten dar.

Förderung und Durchführung des Forschungsprojekts

Das Forschungsvorhaben wurde über die Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen (AiF) im Rahmen des Programms zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages für die Projektdauer vom 1. Juni 2017 bis zum 30. November 2019 mit 411.640 Euro gefördert und in Kooperation mit Prof. Dr. Sebastian Münstermann von der RWTH Aachen University (Lehr- und Forschungsgebiet Bauteilintegrität, Institut für Eisenhüttenkunde) durchgeführt.

Die Abbildung vergleicht die experimentelle und simulierte Bruchfläche eines BDWT-Versuchs. Die simulierte Bruchfläche (links) zeigt die Verteilung der plastischen Vergleichsdehnung (PEEQ) nach Rissinitiierung im Kerbgrund (NR) und Rissfortschritt. In der Mitte der Wandstärke (WT) traten in der Simulation in Übereinstimmung mit dem Versuch. Foto: Prof. Dr.-Ing. Aida Nonn